Das Städtchen Tut © Ömer Dogan

Auf einer Terrasse am Südhang der Hac? Muhammet-Berge, einem nördlichen Ausläufer des östlichen Taurusgebirges, liegt – sehr idyllisch, aber ziemlich weitab vom Schuss – das Städtchen Tut. Mit seinen gerade mal 3200 Einwohnern ist es einer der kleinsten Landkreise der Türkei.

Seinen Namen hat Tut von einem Agrarprodukt, das hier angebaut wird: den Maulbeeren. Auf türkisch dut, mundartlich “tut” ausgesprochen. Dass Maulbeeren hier eine besondere Rolle spielen, erkennt jeder, der zwischen Mai und September von der Hauptstraße zwischen Gölba?? und Ad?yaman abgebogen und die Serpentinenstraße hinauf, über eine Bergkette, dann hinunter in ein tiefes Bachtal, und schließlich wieder bis auf etwa 1200 Meter bergauf gefahren ist. Unter jedem Maulbeerbaum – mit anderen Worten: unter fast jedem Baum – sind große Netze aufgespannt oder Planen ausgelegt, so dass die kleinen Früchte, die herunterfallen, sobald sie reif sind, problemlos eingesammelt werden können.

Die Netze unter den Maulbeer-Bäumen © Ömer Dogan

Hidden Gem

Nicht überall in der Türkei genießen Maulbeeren die gleiche respektvolle Behandlung wie in Tut: in meinem Wohnort Bodrum im Westen der Türkei zum Beispiel fallen die unscheinbaren Beeren meist unbeachtet herunter und verrotten auf dem Boden oder werden zertreten. Da sie in reifem Zustand nicht länger als einen Tag haltbar sind, lohnt sich der Verkauf nicht, zumal man Maulbeeren eigentlich nicht pflücken kann.  Allenfalls herunterschütteln ist möglich, aber da die Früchte nicht gleichzeitig reif werden, sondern sich der Reifungsprozess über mehrere Wochen hinzieht, ist der kommerzielle Wert der Maulbeeren heutzutage sehr begrenzt.

Weiße Maulbeeren © Ömer Dogan

Auch in Tut hatte die Wertschätzung für den Baum, dessen Früchte der Stadt den Namen gaben, in den letzten Jahrzehnten stark abgenommen. Viele Maulbeerbäume wurden gefällt und ihr Holz genutzt, um Gestelle zu bauen, auf denen Tabakblätter getrocknet werden.Tabak aus Ad?yaman – weltweit war das über Generationen ein Synonym für 1A-Qualität. Aber als von den USA Anbauquoten verfügt wurden, die die Türkei akzeptierte, war es in Ad?yaman vorbei mit dem lohnenden Tabak-Geschäft und fast alle Söhne der Stadt suchten ihr Glück als Gastarbeiter in der Schweiz.

Maulbeeren Lokum © Ömer Dogan

Revival der Super-Beeren

Einer von ihnen, Kadir Dursun, fand zwar auch in der Schweiz nicht sein Glück, dafür aber in der Westtürkei, wo er zu einem erfolgreichen Konzert- und Festivalveranstalter wurde und über zwanzig Jahre als Manager des bekannten Pianisten Faz?l Say agierte. Ausgestattet mit einem kleinen Vermögen und – was noch wichtiger war – mit dem erweiterten Horizont dessen, der über den eigenen Tellerrand hinausgeschaut hat, kehrte er 2008 als Investor in seinen Heimatort zurück, um das wiederzubeleben, wofür Tut einst berühmt war: den Anbau erstklassiger Maulbeeren. 

Maulbeeren-Produkte 

Denn auch wenn der Wirtschaftswert der frischen Früchte gegen Null tendiert, kennt man seit Jahrhunderten Möglichkeiten der Haltbarmachung, mit denen sich ein Mehrwert erwirtschaften lässt. Am einfachsten ist es, die reifen Beeren an der Luft zu trocknen. Das dauert in den trockenen, warmen Sommern im südöstlichen Anatolien gerade mal drei Tage – ganz ohne Behandlung oder chemische Zusätze. Die älteren Bewohner von Tut können sich gut daran erinnern, dass ihre Mütter ihnen statt einem Frühstücksbrot eine Handvoll getrockneter Maulbeeren für die Schulpause in die Taschen steckten. Man kann die Beeren aber auch pressen und ihren Saft zu Sirup kochen.

Maulbeeren werden getrocknet © Ömer Dogan
Maulbeeren Sirup © Ömer Dogan
In der Maulbeeren-Produktion © Ömer Dogan

Kadir hatte erkannt, dass die getrockneten Maulbeeren und der Maulbeersirup genau im weltweiten Trend zu unbehandelten, traditionellen Nahrungsmitteln mit hohem Nährwert liegen. Er kaufte ein Gelände oberhalb des Städtchens, in dem sich bereits einige jahrhundertealte Maulbeerbäume befanden und erweiterte die Plantage mit verschiedenen Maulbeer- und Walnusssorten, nannte das Anwesen Dutbahçem (“Mein Maulbeergarten”) und begann mit der Produktion. In dem von Arbeitslosigkeit geplagten Ort gab es genügend erfahrene Helfer und dank Kadirs guter Verbindungen zu Presse, Künstlern, Intellektuellen und anderen potentiellen Abnehmern stieg das Interesse an Produkten aus Tut schnell an.

Maulbeer-Baum © Ömer Dogan
Maulbeeren am Baum © Ömer Dogan

Vielen Lesern aus dem mitteleuropäischen Raum sind Maulbeeren gar kein Begriff. Man kennt den Maulbeerbaum vor allem wegen der Blätter, der einzigen Nahrung von Seidenraupen. Kaum verwunderlich, dass der Maulbeerbaum, der bis zu 20 Meter hoch werden kann, ursprünglich aus China kommt, wo auch die Herstellung von Seide ihren Anfang nahm. Maulbeerbäume sind allerdings schon seit römischer Zeit auch im Mittelmeerraum nachgewiesen.

Weiße und schwarze Maulbeeren

Morus alba, die Weiße Maulbeere, ähnelt entfernt der Himbeere. Sie hat allerdings einen kurzen Stengel, der sich nicht von der Frucht lösen lässt. Sie schmecken süß, aber nicht sehr ausdrucksvoll. Die meisten Sorten sind weiß, die Früchte können allerdings auch leicht rosa, blasslila und sogar schwarz sein, was ziemlich verwirrend ist, da es außerdem die leicht säuerlichen Schwarzen Maulbeeren (morus nigra) gibt. Die Heimat von morus nigra ist Vorderasien, die Blätter sind an der Unterseite von feinen Härchen bedeckt und eignen sich nicht als Nahrung für Seidenraupen. Ein weiterer Unterschied zu morus alba ist der fehlende Stengel: die Früchte wachsen direkt am Ast. Während die weißen Maulbeeren in der Türkei – je nach den klimatischen Bedingungen – zwischen Mitte Mai und Mitte Juli geerntet werden, sind die schwarzen Maulbeeren echte Sommerfrüchte, die noch bis Ende August stetig nachreifen. Ihr Geschmack ähnelt dem von Brombeeren, aber sie sind noch saftiger und extrem farb- und geschmacksintensiv. Wer einmal frische schwarze Maulbeeren gegessen hat, vergisst das Aroma sein Leben lang nicht!

verschiedene Maulbeeren © Ömer Dogan

Superfood 

Während morus alba auch in Mitteleuropa gedeiht, bevorzugt morus nigra das mildere Mittelmeerklima. Vielleicht ist das der Grund, warum es im deutschsprachigen Raum so gut wie keine Literatur über die Heilkräfte von morus nigra gibt, während sie in der Türkei einer breiten Öffentlichkeit bekannt sind. So gilt Sirup aus schwarzen Maulbeeren als die beste Arznei gegen Aften und andere Wunden im Mund- und Rachenraum. Bei Erkältungen und Halsentzündungen findet der Sirup Verwendung und hat allgemein entzündungshemmende Wirkung. Er ist reich an Vitamin C, Kalium und Eisen, gilt als blutzuckersenkend und stoffwechselanregend. Wegen des hohen Anteils an bioaktiven Anthocyanen (lila Farbstoff) wird er auch als Heilmittel bei Krebserkrankungen, besonders Hautkrebs, angewendet.

Man kann nur rätseln, warum die schwarze Maulbeere trotz ihrer außerordentlichen Eigenschaften bisher noch nicht in großem Stil angebaut wird. Ein Grund mag die aufwendige Ernte sein: Abpflücken lassen sich die saftigen Beeren nur kurz vor der Vollreife (dem Moment, an dem sie von allein herunterfallen), weshalb jeder Baum zwar täglich, dafür aber nur kleine Mengen liefert. 

dunkle Maulbeeren © Ömer Dogan

Der Saft der Früchte färbt Hände und Kleidung so intensiv, dass sie in manchen Gegenden der Türkei auch “Blutmaulbeeren” genannt werden. Kein Wunder, dass Sirup aus schwarzen Maulbeeren im Verhältnis zu weißem Maulbeersirup ein Vermögen kostet – etwa das Zehnfache. 

Aber auch weiße Maulbeeren zählen zu den “Powerfrüchten”, besonders wegen ihres im Trockenzustand hohen Eiweißgehalts, was sie bei Sportlern, Vegetariern und Veganen sehr beliebt macht. Getrocknete Maulbeeren sind auch eine optimale Zutat fürs Müsli.

Produkte aus weißen Maulbeeren © Ömer Dogan

Kadir Dursuns Social Responsibility 

Zurück nach Tut und zu Kadir Dursuns Maulbeergarten: Im Gespräch darüber, was ihn eigentlich antreibt, erzählt Kadir mir von seiner Mission: Er hat sich zum Ziel gesetzt, dass jede Familie in Tut durch die Maulbeeren ein Jahreseinkommen von mindestens 50.000 TL generieren kann – womit sie bereits erheblich über dem türkischen Mindestgehalt liegen würde. Er ist stolz darauf, in dreizehn Jahren unermüdlichen Engagements für die Maulbeerprodukte dieses Ziel zu 90% erreicht zu haben.

verschiedene Produkte aus Maulbeeren © Ömer Dogan

Tatsächlich gibt es inzwischen in Tut einige Maulbeerbauern, die ihre eigenen Marken gegründet haben und mit interessanten neuen Maulbeerprodukten experimentieren. Mein Favorit ist eine in mundgerechte Würfelchen geschnittene marzipanartige Masse, eine Energiebombe aus Maulbeersirup, getrockneten Maulbeeren und gemahlenen Walnüssen – lecker! Diejenigen, die nicht so viel Unternehmergeist mitbringen, können ihre Erzeugnisse an die Großhändler verkaufen, die jedes Jahr in Tut vorbeikommen und getrocknete Maulbeeren oder Maulbeersirup aufkaufen. Die alten Leute in Tut erinnern sich, dass man früher zwei Kilo getrocknete Maulbeeren gegen ein Kilo Mehl eintauschen konnte – inzwischen ist das Verhältnis eher umgekehrt.

Produktion vom Maulbeerensirup © Ömer Dogan
Beim Einkochen der Maulbeeren © Ömer Dogan

Ich bin sicher, es wird nicht lange dauern, bis auch europäische Feinkostvertriebe auf Maulbeerprodukte aus Tut aufmerksam werden und deutsche Konsumenten auf den Maulbeergeschmack kommen. Bis dahin jedoch ist ein Besuch in der Provinz Ad?yaman im Städtchen Tut eine lohnende Alternative!

Bild von annettehanisch

annettehanisch

WordPress Cookie Hinweis von Real Cookie Banner